20.07.10

episode 34

sybille zählte die küchendielen. eins, zwei, drei, vier ... neunundzwanzig und wieder zurück. sie versuchte, sich die drei knarzenden zu merken. nebenan schlief raiko und weil sie sein schweres, gleichmäßiges, nur von leichten schnarchern durchbrochenes atmen deutlich hören konnte, schienen ihr alle selbst verursachten geräusche doppelt so laut. in ihrer eigenen wohnung bewegte sie sich gelassener, jeder ton hatte eine eigene selbstverständlichkeit, einfach weil sie die entfernungen kannte. sie hätte nach der arbeit nicht mit zu ihm gehen sollen. sie hätte einen besseren schlaf gehabt und seine hand nicht zurückweisen müssen. seitdem sie sich regelmäßig küssten und manches mal arm in arm einschliefen, verwischten die grenzen zwischen ihnen zusehends. ihr versuch, distanz zu halten, misslang regelmäßig, wenn er als rettender engel aus dem nichts auftauchte, um sie von der arbeit abzuholen. sein zuhause war ja auch näher dran und sie hatte nach der gestrigen spät- gleich wieder die frühstücksschicht und wusste bereits jetzt, während sie durch die küche tigerte, dass sie später bei ihm im antiquariat vorbeikommen würde, um dort ein bier vor dem laden zu trinken und den kopf an seine schulter zu legen.
sie horchte ins nebenzimmer, er schien sich durch ihr auf und ab nicht stören zu lassen. sie wollte sich erst hinter dem gleichmäßigen rauschen des radios verstecken, aber aufjaulende jingles, werbeunterbrechungen und vor allen dingen das hektische geschrei von gleich zwei moderatoren ließ sie das gerät bald wieder ausschalten und sie hatte begonnen, auf zehenspitzen jede bohle einzeln zu prüfen. fünfzehn, knarz, sechzehn, knarz, und achtzehn, knarz. weiter bis zum fenster. neunundzwanzig, dachte sie, ganz schön viele, das sind vier mehr als ich alt bin, machte kehrt und begann noch einmal in die gegenrichtung zu zählen: zwölf, knarz, vierzehn, knarz, fünfzehn knarz. fünfundzwanzig.stopp.
mit zwölf jahren entspricht man gerade noch so dem selbstbild einer prinzessin oder tierärztin, man beginnt erst zu ahnen, dass man da hineingeboren werden muss oder veterinärmedizin studieren, mit fünfzehn und drumherum schwärmt man für jungs oder vorbilder, mit achtzehn weiß man, was man sein will und fühlt schon wie sich das anfühlen soll und mit fünfundzwanzig steht man da und starrt den küchenfußboden an, weil es bis neunundzwanzig bloß noch ein paar schritte sind. raiko war schon so weit. sie beneidete ihn um seinen festen schlaf und darum, dass er seinen weg schon gegangen war. raiko hatte sich für eine karriere als raiko entschieden. er hockte in seinem antiquariat, wie er es gestern getan hatte, heute wieder tun würde und wahrscheinlich auch überübermorgen. ein weiteres mal den Fuß setzen und dann bachelor of arts im fach modedesign, danach wieder eine entscheidung treffen und den master machen. und dann? „von der idee zum modell zur kollektion“, hallte es ihr in den ohren, „ist es ein weiter weg, aber sie werden nie dort ankommen, wenn nicht schon die idee die kollektion repräsentiert. einigen von ihnen“, und an dieser stelle hatte frau sievken sie angesehen, das wusste sybille ganz genau, der blick brannte noch immer auf ihrer stirn, „einigen von ihnen würde ich anraten eine tätigkeit in angrenzenden bereichen anzustreben, redaktionen, agenturen, im vertrieb. oder machen sie doch einfach etwas mit print.“ genau, dachte sybille, ich gehe vor bis neunundzwanzig und mache was mit print, ich gehe nicht nach barcelona, mailand, london oder new york, ich drucke kleine stadtspatzen auf t-shirts oder taschen, lasse sie um den fernsehturm herumfliegen oder durch das brandenburger tor. weil mir nichts besseres einfällt. meine geschäftsidee. „berlin to go“, nenne ich das. accesoires für touristen. das kann ich dann bei peer im kaffee verkaufen, da muss ich ja sowieso gleich wieder hin.

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