20.07.10

episode 30

dezember. geburtstagsmonat. weihnachtsmonat. dunkler monat.
kaum sonne bis jetzt. ist es elf? zehn? vierzehn uhr? sybille hatte anlässlich ihres geburtstags einen strauß blassrosa tulpen gekauft. die sollten nach zwei tagen in der vase weit geöffnet happy birthday sagen, aber wahrscheinlich würden sie mit geschlossenen köpfen vergehen. herzlichen glückwunsch, deine tulpen sind an der dunkelheit verreckt. mal sehen wer sich meldet. eingeladen war niemand. mit raiko
rechnete sie ganz fest. der wird einfach vor der tür stehen, ganz sicher. all die anderen, was war das letztes jahr? gernegroß peer ließ dröhnend den gemachten man raushängen. die anderen hatten projekte, breiteten lebenspläne aus. raiko trotzte angeekelt im sessel. mehr unausgesprochene aversionen in der luft als gespräche. das ist wie weihnachten. in berlin ging es darum, zu verkünden, was man aus seinem leben zu machen gedenkt, in neumünster lautete die frage: „was hast du aus deinem leben gemacht?“. auch wenn das niemand direkt ansprach. lange zeit hatte sie gedacht, ausschließlich schöne erinnerungen an die familienweihnacht zu haben: sybille, eingekuschelt in einen sessel, liest bis ihr die augen zufallen, sybille spielt blockflöte, sybille sagt vor der bescherung ein gedicht auf. und jedes mal nach ihren vorführungen sagte mum: „das hat sie aus lübeck“, den blick zu oma lisbeth gewandt, strich sybille dabei mit der hand durch die haare und noch einmal mit nachdruck: „nech bille, wir lübecker töchter.“ oma lisbeth nickte und dad schwieg, runzelte nicht einmal die stirn, als sei in diesem moment gerade eine gesprächspause, konzentrierte sich auf das anzünden der christbaumkerzen und „ja“, sagte oma lisbeth, „das hat sie aus lübeck, das musische!“ opa heinrich nickte bekräftigend. dazwischen onkel werner, auch kein lübecker sondern der bruder des ehemannes einer lübecker tochter, trank seinen dritten cognac. onkel werner der zu laut atmete, mit seiner toten frau im gepäck. sybille schüttelte ihm zur begrüßung nur kurz die nikotinfinger, gab und wollte kein küsschen und nicht auf den schoss, bedankte sich bei ihm gerade mal höflich für das geschenk. „ja ich weiß ja nicht womit kleine mädchen so spielen. aber schön das es dir gefällt.“ sybille lief „schau guck mal“ zu oma und opa, die durften mit ihr spielen, dann sang sie ein weihnachtslied. „das hat sie aus lübeck!“ immer wieder. dad strich das geschenkpapier
glatt. warum redete er nicht mit seinem bruder? der lübecker zweig der familie war sich einig, dad öffnete eine weitere flasche wein, onkel werner schnaufte und trank, sybille tobte vergnügt um den tisch und aller tage friede.
ich will das nicht mehr, dachte sybille, ich will keinen solchen geburtstag und ich will weihnachten am liebsten nicht nach neumünster, ich will erinnerungen an ein eigenes leben haben, im dunklen berlin bleiben. alleine sein, das konnte sie auch allein zu haus. „das hat sie aus neumünster“, würde oma lisbeth sagen, „das eigenbrötlerische.“ sybille musste lachen.
fünfzehn uhr. einsetzen der dämmerung. wenn der dunkle tag
noch dunkler wird. bis jetzt keine sonne. die wintersonne schlägt einem tief stehend schmerzhaft in die augen, leuchtet alles erbarmungslos aus: die fingertapser um den lichtschalter herum, die staubschlieren auf den steckdosen, den abgetragenen wintermantel, zerkratzte schuhe.keine sonne bis jetzt. gott sei dank keine sonne.

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