20.07.10

episode 23

sybille nippte an ihrer pina colada, lag ganz still, überliess sich ihren regelmässigen atemzügen und horchte in den nachmittag hinein. es war auf eine vollkommene weise still. stille bedeutete ja nicht geräuschlosigkeit sondern eine art ruhiger gleichmässigkeit. ein gemurmel, ein streicheln des windes, ein wiegendes auf und ab. träge blinzelte sie in die sonne, stiess sich mit dem heraushängendem bein ab, um die hängematte in schwung zu bringen, dabei grub sich ihr fuss leicht ein und beim herausziehen rieselte der sand zwischen den zehen hindurch.
zu hause verbrachte sie die sonntage häufig bei offenem fenster auf dem bett und lauschte dem klappernden abwasch der anderen hausbewohner, den zusammenhanglosen musikfetzen und übers dach schwappte das rauschen der sonntagsflaneure aus der simon-dach-strasse in den hof. so ungern sie sich das inzwischen antat am flohmarkt rundlauf auf dem boxi teilzunehmen, so gerne lag sie einfach nur da, schaute auf die glänzende hinterhausfassade, liess sich die nasenspitze von einem hereinwehenden luftzug kitzeln, die hände von einem glas latte machiato wärmen und beschäftigte sich mit nichts. das wasserflugzeug brummte leise auf seinem rundflug, im ersten stock hustete der kette rauchende alkoholiker seinen auswurf in die spüle bis sich die mikrowelle mit einem pling öffnete und er mit seinem fertiggericht zurück ins wohnzimmer schlurfte. das war der klingende ausschnitt ihrer stadt, der in dieser zusammensetzung nur auf dem rücken liegend in ihrem schlafzimmer zu vernehmen war. eben das nur-geräusch. gerade im frühjahr oder im herbst waren die töne klarer und schienen eine weile in der luft hängen zu bleiben, eine präzision wie das farbenspiel der korallen, das man erst unter der wasseroberfläche so wahrnehmen konnte. so da zu liegen, das hatte was von einem gut austarierten tauchgang, bloss ohne den druck auf den ohren. das war ihr bisher auch erst einmal gelungen, am vorletzten tag ihres ägyptenurlaubes, die belohnung für das bestehen der abitursprüfung. eigentlich träumte sie damals von australien. obwohl sie keinen schimmer hatte, wie es da wohl aussehen könnte, wollte sie die weite des landes erkunden und einmal am great barrier reef tauchen gehen, das hatte sie sich von mum und dad gewünscht, aber die hatten ihr ägypten gegeben und lieber die wohnung in berlin gekauft, da war dann lediglich eine kleine pauschalreise drin gewesen.
nun gut, jetzt war sie ja hier. sie konnte sich nicht erinnern jemals eine so tiefe zufriedenheit in sich verspürt zu haben, wie hier an diesem einsamen sandstrand mit einem drink in der hand. sie nahm noch einen kräftigen schluck pina colada. die palmblätter wiegten sich leicht im wind und sie, umhüllt von der karibischen, feucht schwülen hitze, schaukelte sanft in der hängematte hin und her. durch ihre geschlossenen augenlider sah sie einen schwarm flamingos in seiner ganzen rosa pracht vor dem sonnenuntergang aufsteigen, von den fischerbooten stiessen pelikane ins wasser, die wellen schlugen höher auf den strand und zogen sich mit einem satten schmatzen wieder zurück und als die sonne den horizont berührte, stieg sören aus dem wasser, er trug noch das meer an seinem körper und lief auf sie zu. gleich hatte er sie fast erreicht, nur noch ein kurzer augenblick. sie hob sich ihm entgegen, seinen kräftigen schultern, er beugte sich über sie, wasser perlte auf seiner brust, tropfte auf sie herab, ein schauer rieselte über sie hinweg, vom kopf bis zu den zehenspitzen, alles zog sich zusammen, sie öffnete ihre arme, strich ihm die haare aus dem gesicht, sie wollte versinken in seinen blauen augen, suchte seinen blick, rief seinen namen ... rief ... „raiko", rief sie. wo war sören? sie hatte ihn doch gespürt! alle geräusche verstummten, alle farben erloschen, nichts regte sich mehr. immer wenn sie sören fast erreicht hatte taucht raiko vor ihr auf.
sie hatte geschlafen, sie hatte geträumt, sie lag auf dem sofa und sie hatte geweint.

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